„Stressfalle“ Gymnasium? Binnendifferenzierung kann Überforderung vorbeugen

Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu und der Übertritt auf die weiterführende Schule rückt rasch näher. Trotzdem ist in vielen Familien noch nicht entschieden, wie die weitere Schulkarriere konkret verlaufen wird. Schließlich soll das Kind zwar einerseits nicht unterfordert, andererseits aber auch nicht überfordert werden. Manche besorgte Eltern entscheiden sich angesichts der aktuellen Diskussionen mittlerweile gegen das Gymnasium und vertrauen auf einen zeitlich verschobenen Bildungsaufstieg zu Fachhochschulreife oder Abitur. Nicht immer zum Wohl des Kindes, wie Dr. Alexander-Maximilian Goersch, Schulpsychologe der Schloss-Schule Kirchberg erklärt.

„Keine andere Schulform führt in Deutschland zu einer derart guten Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit des Kindes wie das Gymnasium“, so Goersch. „Der Intelligenzquotient von Gymnasiasten steigt zwischen der 7. und der 10. Klasse um durchschnittlich 11 Prozentpunkte stärker an als der von Realschülern. Das bedeutet: Der Gymnasialbesuch wirkt – entwicklungspsychologisch betrachtet – selbstverstärkend, weil das Umfeld in einer dafür besonders günstigen Phase aktiv dazu beiträgt, dass sich die Jugendlichen positiv entwickeln. Übrigens nicht nur, was die geistigen Fähigkeiten, sondern auch, was das Sozialverhalten betrifft: Das Gymnasium bietet nachweislich beste Voraussetzungen für die Entwicklung einer prosozialen Orientierung. Personen mit höherer Bildung engagieren sich zu 43% im ehrenamtlichen Bereich, bei Personen mit niedrigerer Bildung sind dies dagegen nur 22%.“ Schüler, für die ein zeitlich verschobener schulischer Aufstieg zu Fachhochschulreife oder Abitur ins Auge gefasst wird, können von diesen positiven Effekten kaum profitieren. Sie müssen sich ihren Zugang zu den höheren Bildungsabschlüssen und einer entsprechenden Entwicklung meist wesentlich härter erkämpfen.


Trotzdem empfiehlt Goersch nicht jedem Kind den Besuch des Gymnasiums. Falls tatsächlich eine Überforderung zu erwarten ist, „sollte diese nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Die negativen Folgen für das Kind könnten sonst gravierend sein“, so Goersch. Der Knackpunkt liegt für ihn vor allem darin, dass in Deutschland meistens zu wenig differenziert auf die Kinder und Jugendlichen eingegangen werden kann. „Durch die klassische Dreiteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium wird auch das Leistungsniveau der Schüler in diese drei sehr groben Klassen eingeteilt – tatsächlich ist die Leistung aber stetig über
die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten verteilt und müsste auch dementsprechend individuell gefördert werden.“

Viele Schulen können ihre Förderung über die klassische Schultypen-Einteilung hinaus aber nur in sehr begrenztem Umfang an die spezifischen Bedürfnisse des Einzelschülers anpassen. Genau darin liegt, so Goersch, aber der Erfolgsschlüssel: Wer seine Schüler als Einzelpersonen mit ganz unterschiedlichen Potenzialen und Fähigkeiten wahrnimmt und fördert, kann auch solchen Schülern den Weg zum Abitur ebnen, die anderswo mit hoher Wahrscheinlichkeit daran scheitern würden. Und das, ohne dass die Schule deshalb zur „Stressfalle“ werden muss.

„Binnendifferenzierung“ lautet, so Goersch, das Zauberwort für diese anspruchsvolle Herangehensweise – und sie setzt an einer Schule vor allem drei Dinge voraus: Erstens die individuellen Merkmale der Schülerinnen und Schüler durch geeignete Maßnahmen und die intensive Auseinandersetzung mit ihnen überhaupt zu erkennen. Zweitens daraus individuelle Förderpläne und -strukturen abzuleiten. Und drittens die Förderungen mit qualifiziertem Personal im Klassenverband aber auch außerhalb zu realisieren. Eine problematische Überforderung, so der Schulpsychologe, entwickelt sich dabei erst dann, wenn Belastungen nicht mit entsprechenden Ressourcen kompensiert werden können. Verständlich, so Goersch, dass dies einer klassischen Halbtagesschule mit 30 und mehr Schülern pro Klasse und eher schwächer ausgeprägten Förder- und Freizeitstrukturen deutlich schwerer fällt, als beispielsweise einem Internatsgymnasium wie der Schloss-Schule Kirchberg.

Das Internat bietet für die Entwicklung der wichtigen Kompensations-Ressourcen außerordentliche Reserven. Kleine Klassen, individuelle Lernpläne, gezielte Hausaufgabenbetreuung, spezifischer Förderunterricht und differenzierte Lerngruppen sind dabei die eine wichtige Seite der Medaille. Die andere besteht im besonderen Verständnis des Einzelschülers, aber auch in den vielfältigen Arbeits- und Freizeitgruppen-Angeboten und im intensiven Austausch mit den Betreuern und den anderen Schülern. Positiv tragen dazu bei einem Internat wie der Schloss-Schule auch das interkulturelle Miteinander und die Weltoffenheit bei. Schüler aus anderen Ländern und Kulturen werden dort vor diesem Hintergrund als echte Bereicherung der Schulgemeinschaft wahrgenommen.

Von entscheidender Bedeutung ist außerdem, nach Ansicht von Goersch, die Formulierung klar definierter Detailziele für jeden Schüler, um Belastung und Ressourcenschutz in ein gesundes Verhältnis zueinander zu bringen. Sind Ziele nicht herausfordernd genug, kommt es zur Stagnation oder gar zum Abbau von Fähigkeiten. Sind sie dagegen zu schwer zu erreichen, kommt es zur Frustration – und damit zur Überforderung. Ziele sind der Schlüssel zu jenen Fähigkeiten, die noch nicht entwickelt, aber in der Einzelperson grundsätzlich angelegt sind. Der Umgang mit diesen Zielen, ihrer Formulierung und den Strategien zu ihrer Erreichung sind deshalb ganz entscheidende pädagogische Bausteine.

„Eine gymnasiale Schulbildung mit abschließendem Abitur kann manche Schüler in der Tat überfordern“, betont Goersch, „aber unter besonders positiven Rahmenbedingungen sind wesentlich mehr Kinder und Jugendliche als allgemein angenommen in der Lage, diese Hürde zu meistern und von den besonderen Chancen des Gymnasiums zur Wissens-, Charakter- und Sozialverhaltensbildung zu profitieren. Es ist schade“, so der Psychologe abschließend, „beobachten zu müssen, dass vielen Kindern und Jugendlichen diese einzigartige Möglichkeit aus einer oft unbegründeten Angst vor Überforderung heraus verwehrt wird.“


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